Streiten mit Struktur: unser Diskurspfadmodell

(CC BY 4.0)

Das Modell wurde zuerst veröffentlicht in:

Kunzmann, P., Nelke, A. und Weber, T. „Das geht besser!“ In: DLG-Mitteilungen 5/2021. S. 53.

Die Veröffentlichung im Abschlussdesign findet sich offen zugänglich unter:

Weber, T. S., Nelke, A., & Kunzmann, P. (2021). Zukunftsdiskurse - Wie Menschen über Tiere streiten : Projektbericht. Hannover: Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie. https://doi.org/10.4119/unibi/2957406

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Kurzerklärung

Dieser Vorschlag für ein Strukturmodell bei Debatten um Tierhaltung fängt beim Fokus auf die Tiere selbst an, bezieht aber alle Interessensbereichen des Diskursfeldes mit ein. Auch die ausschließlich menschlichen Interessensfelder wie etwa die Ökonomie müssen bei konkreten Haltungsdiskussionen einen festen Platz haben.

Es geht um Transparenz und Verbindlichkeit (jede/r kommt mit den eigenen Interessen an die Reihe) sowie eine klare Ordnung, um die Vermischung der Ebenen (siehe Abb. 1 oben) zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren.

 

 

 

 

 

 

 

 


Erklärung zum Diskurspfad

 

Schritt 1

Kernfrage am Ausgangspunkt in Bezug auf das Tier sollte sein: Um was geht es konkret? Für den Verlauf ist es von erheblicher Bedeutung, ob (massive) Tierschutzverstöße Gegenstand des Diskurses sind oder ob derzeit gültige gesetzliche Mindeststandards bzw. auch untergesetzliche Normen reflektiert werden sollen.

 

Im ersten Fall besteht bereits von vornherein Konsens darüber, dass ein solcher Umgang mit Tieren weder gesellschaftlich akzeptiert noch juristisch begründet werden kann, ganz gleich, aus welcher Perspektive man die Sachlage betrachtet. In Bezug auf die Tierhaltung wird also vermutlich kein grundsätzlich neuer Gedanke im Diskurs entstehen. Vielmehr rückt das individuelle, oft tragische Schicksal von Tierhalter*innen in den Mittelpunkt und damit die Suche nach den Gründen und möglichen Hilfsangeboten, um zukünftige Verstöße abzuwenden.

 

Der zweite Fall fokussiert die klare Benennung der derzeit legitimierten Nutztierhaltung, die durchaus an vielen Stellen hinterfragt werden kann oder deren Neuverhandlung bereits gefordert wird.

 

Eine besondere Herausforderung stellt hierbei der Anspruch dar, die relevanten Aspekte hervorzuheben und möglichst wertfrei zu beschreiben. Der sprachlichen Klarheit kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu (siehe Gesprächsregeln).

 

Die Festlegung der Akteur*innen, die geeignet sind, den IST-Zustand zu formulieren und somit den Startpunkt zu definieren, kann sich durchaus als problematisch erweisen.

Die Deutungshoheit wird häufig allein mit der eigenen Diskurspartei verbunden und anderen Akteur*innen Beurteilungskompe-tenz oder auch nur Mitspracherecht von Vornherein abgesprochen. Dabei muss klar sein, dass keine inhaltliche Position im gesamtgesellschaft-lichen Diskurs außen vor bleiben darf, damit nicht Radikalisierung und weiterem Hass Tür und Tor geöffnet werden.

 

Aber alle, die sich am (Fach- und Praxis-) Diskurs beteiligen, sollten, gewissermaßen als Eintrittsticket, zu einer respektvollen Netiquette  sowie die Bereitschaft zu gemeinsamen Kompromiss-schritten bereit sein.

 

Mögliche Leitfragen:

 

Wie lässt sich die aktuelle Situation einer bestimmten Nutztiergruppe bzw. einer Haltungsform sachlich beschreiben?

 

Welche gesetzlichen Vorschriften liegen der gängigen Praxis zugrunde? Wird die gesetzliche Vorschrift eingehalten/ nicht eingehalten?

 

Liegt das Problem großflächig vor oder handelt es sich eher um Ausnahmen?

Schritt 2

An Diskursen beteiligen sich Menschen mit sehr unterschiedlichem Wissen zu Nutzierhaltung, die die konkrete Sachlage durch unterschiedliche „Brillen“ betrachten.

 

Je nachdem aus welcher Disziplin ihr Wissen stammt, verwenden sie fachspezifische Instrumentarien zur Bewertung.

Aus naturwissenschaftli-cher Perspektive bilden je nach Fachdisziplin folgende Themen den Schwerpunkt:

 

► Verhaltensweisen eines Tieres in natürlicher Umgebung im Vergleich zu „künstlicher“ Lebenswelt und evtl. damit verbundene Einschränkungen Spannbreite zwischen Schmerzfreiheit und Wohlbefinden

 

► Grad der Schmerzhaftigkeit von Eingriffen für das Tier

 

► Belastungsgrenzen für das Tier, usw.

 

Mithilfe des ethischen Werkzeugs werden moralisch relevante Aspekte sichtbar gemacht, die in den weiteren Abwägungsprozessen zu berücksichtigen sind.

 

Das juristische Auge prüft, inwiefern die gängige Praxis mit gültigen gesetzlichen Normen vereinbar ist oder ob die Auslegung solcher Normen und deren Auswirkung auf die Praxis dem Willen des Gesetzgebers entspricht.

 

Doch nicht allein Fachexpertise, auch Erfahrungs- und Praxiswissen tragen für eine Urteilsfindung relevante Standpunkte in den Diskurs hinein. Aus der Schnittmenge aller Einzelbewertungen sollte sich ein Gesamturteil des IST-Zustandes ergeben, aus dem heraus im nächsten Schritt der für das Tier wünschenswerte Zustand abgeleitet werden kann.

 

Ein Optimum für das tierliche Individuum sollte hier das anzustrebende Endergebnis sein.

 

Schritt 3

 

In individualethischen Entscheidungsprozessen wird das Handlungsziel einer Person erheblich durch ihre Handlungsmöglichkeiten bestimmt.

In der gesamtgesellschaftli-chen Debatte hingegen soll es zunächst darum gehen, gemeinsam erarbeitete Werturteile in Bezug auf das Tier klar zu benennen.

Dieser Grundkonsens soll als Wegweiser für konkrete Handlungsziele dienen, deren Grenzen erst in einem nächsten Schritt aufgezeigt werden sollen.

 

Mögliche Leitfragen:

 

Welche Pflichten ergeben sich dem Tier gegenüber?

 

Welche Veränderungen sollen dringend vorgenommen werden?

 

Welche Handlungsziele in Bezug auf Tiere lassen sich aus der Bewertung des IST-Zustandes ableiten?

 

 

Schritt 4

Menschliche Belange und Bedürfnisse müssen im Diskurs unbedingt  auch ihren festen Platz haben.

 

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass tierliche und menschliche Interessen notwendigerweise gegensätzlich in der Diskussion sind.

Die teils gegensätzlichen Interessen erhöhen aber die Komplexität des Diskurses enorm.

 

In den meisten Fällen werden ökonomische Zwänge als gewichtiges Gegenargument zur Veränderung einer bestimmten Haltungspraxis angeführt.

 

Auch ökologische Grenzen nehmen insbesondere im Hinblick auf Nachhaltigkeitsthemen an Bedeutung zu.

 

Nicht zu vernachlässigen sind auch soziale Anliegen wie z.B. Repräsentation einer bestimmten Interessensgruppe oder der Erwartungsdruck bestimmter sozialer Gruppen, die einen Einfluss auf die Argumentationsweise haben.

 

Diese Realitäten von Menschen, die ihr Vorhaben oft limitieren, sollen aus zweierlei Gründen erst in den Mittelpunkt rücken, nachdem im Diskurs das Soll für das Tier im jeweiligen Kontext festgelegt wurde: Zum einen wird hierdurch die Diskrepanz zwischen dem Erstrebenswerten für das Tier und der Realisierbarkeit unter den aktuellen Umständen deutlicher. Zum anderen ergibt sich aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit, nach geeigneten Stellschrauben im System zu suchen und zugleich die Akteur*innen, die zur Handlung verpflichtet sind, zu identifizieren.

 

Mögliche Leitfragen: Welche Rahmenbedingungen/Handlungsmöglich-keiten liegen vor?

 

Welche Hürden bestehen (derzeit) bei der Umsetzung des SOLL-Zustandes?

 

Welche Partei ist verantwortlich für die Änderung, wer ist sogar zur Umsetzung verpflichtet?

 



 

Dissensverwaltung

Eine wichtige Frage, die sich bei diesem Modell stellt, ist die nach der Unvereinbarkeit von Standpunkten, Meinungen und Moralvorstellungen von Diskursparteien.


Eine klare Debattenstruktur kann nicht ändern oder verhehlen, dass grundlegende Dissense in der Wertvorstellung und im Umgang mit Tieren Teil der gesellschaftlichen und auch fachlichen Debatten sind.

Eine transparente Diskussionsstruktur kann aber einen Umgang mit diesen Dissensen verbessern, indem sie klar allen assoziierten Inhaltsbereichen einen Platz zuweist und niemand befürchten muss, mit den eigenen Interessen ungenannt oder nur scheinbar verhandelt zu werden.

Gleichzeitig lässt, trotz der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmensituation, das Modell nicht zu, dass tierethische Fragen gleichwie untergehen oder ausschließlich synchron mit menschlichen Rahmenverhand-lungen thematisiert werden.
Die Chronologie trägt somit der menschlichen Verantwortung gegenüber den Tieren wie auch den Wünschen von einer Mehrheit von Bürger*innen Rechnung, tierethische Belange ins Zentrum zu rücken.

 

Die Art und Weise, wie anhand des Strukturpfades oder anderen Diskussionsrichtlinien über die Haltung von Tieren debattiert und gestritten wird, ist aber ebenso wichtig wie die Vorgehensweise bei der inhaltlichen Debatte.

 

Das Ziel aller Parteien im Sinne einer gemeinsamen gesellschaftlichen Entwicklung von Wegen und Zielen sollte ein respektvoller Dissenz sein.

Dieser lässt sich, ungeachtet aller Emotionen und oft konträrer Tierbilder und Wertvorstellungen nur dann erreichen, wenn achtsam und mit Bereitwilligkeit zu Austausch in den Diskurs eingetreten wird.